Schnelligkeit versus Werte

Warum Schnelligkeit nicht nur schädlich sein kann, sondern auch wertlos

Unser Tag (der übrigens viel zu kurz ist) ist voll von „Schnell-Schnells“: Das Frühstück muss aus Zeitmangel ausfallen („schnell einen Kaffee im Stehen – bin schon spät dran“) und auf dem Weg zur Arbeit bringt uns „der Trottel da vorne“ schnell auf 180.

Im Büro müssen wir vor dem Meeting schnell noch über die Protokolle lesen, damit wir auf Fragen und Einwände schnell reagieren können. Den ganzen Tag über muss es schnell gehen, weil „einem heute wieder die Zeit davonläuft“.

Dazwischen hasten wir schnell an die Ecke, stehen genervt in der Warteschlange (wenn wir beim Warten auf der Stelle trippeln, dreimal in 10 Sekunden auf die Uhr schauen und seufzen, geht’s sicher schneller!) und verschlingen kaltes Fastfood, während wir ein paar SMS checken und uns beim Kollegen nach dem Wochenende erkundigen. Dafür muss Zeit sein – die Antwort indes bekommen wir nicht mehr mit, längst sind wir mit einem „muss weiter!“ wieder auf dem Spurt ins Büro. Dort geben wir jetzt mal so richtig Gas, schließlich ist Zeit Geld, und versuchen durch höhere Geschwindigkeit das Ende des Hamsterrades zu erreichen.

Anrufe von zu Hause („wann kommst Du heute Abend heim?“) wimmeln wir schnell ab („hab gerade Stress!“). Kollegen, die nicht spätestens beim dritten Läuten am Telefon sind, begrüßen wir mit einem „Hab ich Dich etwa geweckt?“ und verabschieden sie nach einer Stakkato-Durchsage mit den Worten „leg Dich wieder hin!“. Jene, die vor 19:30 Uhr das Büro verlassen, fragen wir, ob sie seit Neuestem nur noch halbtags arbeiten. Beim schnellen Blick auf die Uhr fällt uns erschrocken ein, dass wir auch noch schnell was besorgen müssen („was denn, schon wieder Hochzeitstag?“) Auf dem Nachhauseweg fällt uns auf, dass schon wieder Trottel unterwegs sind (die selben wie heute morgen?), daheim checken wir dann schnell unsere Mails und rufen noch ein paar Infos ab (natürlich mit DSL, weil’s schneller geht) und selbst beim Fernsehschauen, bei dem wir eigentlich keine Chance haben, das Tempo zu bestimmen (was uns irgendwie ganz zappelig macht) schaffen es zumindest wir Männer, eine eigene Zeit-Komponente einzuführen: wir zappen mit einer Geschwindigkeit, die es uns möglich macht, noch mehr Programme in noch kürzerer Zeit zu sehen. Einziger Vorteil für die Frauen, deren Augen den Bildern bald nicht mehr folgen können: ihre Männer schlafen alsbald – ganz schnell – ein.

So geht das Tag ein, Tag aus. Einzige Lichtblicke: der Jahresurlaub, der viel zu schnell vorbei ist – und die Rente, die wir ausnahmsweise nicht schnell genug erreichen können. Wer aber einen Rentner kennt weiß: die haben noch weniger Zeit – oder sind tot, kaum dass der jahrelang gewohnte (Zeit-)Druck nachlässt.

Eigentlich wissen wir: diese Hektik macht uns krank. Warum lassen wir dann zu, dass sie überhaupt entsteht? Die Baureihe Mensch ist nicht für schnelle Tempi konstruiert. Zumindest nicht auf Dauer. Die Natur hat Millionen von Jahren benötigt, um uns zu dem zu machen, was wir bis vor kurzem (nach den Zeiträumen der Evolution gesehen) noch waren: Höhlenmenschen, Jäger und Sammler.

Unser Tagesablauf war nicht von Sekunden und Minuten bestimmt – sondern vom Sonnenaufgang und -untergang. Dazwischen liegen – in unseren Breitengraden und jahreszeitabhängig – zwischen 9 und 18 Stunden. Die Aufgaben, die wir in dieser Zeit zu erledigen hatten, waren begrenzt und wurden – vorwiegend – langsam erledigt. Das Sammeln von Beeren und Wurzeln ging ebenso in Ruhe von statten wie die Herstellung von Pfeilspitzen. Wer schon mal Pilze gesammelt hat weiß, dass man dazu Zeit und Muße braucht, ansonsten man schnell etwas übersieht. Und auch bei der Herstellung von Werkzeugen und Waffen waren Funktionalität und Langlebigkeit wichtiger als die schnelle Produktion. Schließlich sollten Pfeilspitzen lang halten – und nicht schnell abbrechen.


Die Frauen haben sich darum gekümmert, dass das Feuer nicht ausgeht, haben sich um die Wintervorräte gekümmert (getrocknetes Slow-Food aus Früchten, Nüssen und Wurzeln als eine Art vorzeitliches Bircher-Müsli) und haben den Nachwuchs aufgezogen. Was natürlich auch seine Zeit erfordert hat. Wie die Schwangerschaft selbst. Die dauerte schon damals etwa neun Monate. Nur verursacht wurde sie in den meisten Fällen schneller wie heute.

Irgendwann haben sich die Männer – und auch hier nur die, die dafür geeignet waren – auf zur Jagd gemacht. Langsam. Denn wer schnell rennt, ist schnell müde. Sowohl was Weg zur Jagd betrifft – als auch den Heimtransport der Beute.
Vor Ort hat man sich erstmal gründlich beraten und die Aufgaben sorgfältig verteilt. Und langsam angeschlichen – denn schnell vertreibt man das Wild. Da kam es weder auf Minuten noch auf Stunden an – richtig schnell musste es dann nur im entscheidenden Moment gehen. Entweder, wenn die Herde versuchte auszubüchsen – oder wenn es darum ging, sie dorthin zu treiben, wo die Fallen warteten.

Um in den entscheidenden Momenten „unseren Mann zu stehen“ hat man uns mit Features ausgestattet, die es uns möglich machen, im richtigen Moment das Richtige richtig zu machen. Man nennt dies das „Flight and Fight Syndrom“. Es bedeutet, dass vor und in Ausnahmesituationen verschiedene Reaktionen in unserem Körper die Voraussetzung schaffen, die Situation optimal zu meistern. Egal, ob wir uns fürs Wegrennen entscheiden – oder fürs Draufhauen. Dazu gehört die frühzeitige Darmentleerung, um Infektionen durch Bauchverletzungen vorzubeugen, ebenso wie der typisch männliche Tunnelblick („Liebling, ich kann das Ketchup nicht finden!“), um sich im entscheidenden Moment nicht ablenken zu lassen. Feuchte Fußsohlen und Handflächen sorgten für den richtigen Tritt im Staub und dafür, dass einem die Keule nicht aus der Hand flog beim Schwingen. Der hohe Blutdruck führte dazu, dass die Muskeln richtig versorgt werden – eine Vermehrung der weißen Blutkörperchen und deren Ansammlung in Klumpen sorgten dafür, dass das Immunsystem ordentlich arbeitete und man außerdem nicht verblutete, sollte das Tier sich zu wehren wissen. Dickes Blut erschwert das Denken, was gerade für uns Männer in manchen Situationen von Vorteil ist (Frauen, da gibt es gar nichts zu Lachen: das hat alles seinen Sinn. Schließlich gibt es Momente im Leben, in denen es nicht sinnvoll ist, erst mal alles auszudiskutieren. Schweigsamkeit ist bei der Jagd ebenso ein Vorteil wie Orientierungssinn – weshalb man(n) die Damen lieber „zu Hause“ am Herd gelassen hat. ).


Ein ausgeklügeltes System also, das so auch nicht schnell mal am Reißbrett entstanden ist. Viele Testreihen waren nötig, Verbesserungen und Updates, bis der Mensch funktionsfähig war. Seither hat sich nicht mehr viel geändert. Noch heute laufen die selben Prozesse in uns ab, wenn wir uns in Kampf- und Flucht-Situationen befinden. Der Auslöser der Kettenreaktion ist der Selbe, wie damals: Stress! Wundern wir uns also nicht, wenn wir kurz vor dem Meeting feuchte Hände bekommen und ganz plötzlich noch mal aufs Klo müssen. Auch ist es ganz normal, dass wir plötzlich nur noch eingleisig denken können. Mitten in einem wichtigen Meeting einen gefürchteten Black Out zu bekommen, ist ebenso natürlich wie menschlich – und erklärbar. Beim Black Out schaltet plötzlich das Hirn ab und man will nur noch draufhauen und weglaufen. Und genau dazu wurde der Black Out „erfunden“.

Nachdenken hätte Zeitverlust bedeuten können und das Zögern hätte uns Zeit gelassen zur Furcht vor den möglichen Folgen (damals Verletzungen und Tod, heute der Rausschmiß). Deshalb wurde der mentale Notaus-Schalter für Extremsituationen entwickelt. Das Problem ist nur, dass damals keiner an die Meetings von heute gedacht hat – und die Sicherung im heutigen Stress- = Normalbetrieb einfach zu schwach ist. Das ist auch der Grund, weshalb sich viele heute lieber mit dem Bungee-Seil in einen Abgrund stürzen – als in eine Präsentation. Interessant ist, dass alleine die Furcht vor dem Black Out den Black Out auslösen kann. Etwas, worüber ein Höhlenmensch sicher nur den Kopf schütteln würde.

Machen wir also nicht den Fehler und sehen Stressreaktionen als Schwäche, ganz im Gegenteil: werten wir sie als Zeichen einer (noch) gesunden und natürlichen Beziehung zu Körper und Geist. Der plötzliche Stuhlreiz ist eine reine Präventivmaßnahme und sogar die zitternden Knie sind ein Zeichen von hoher Kampfbereitschaft. Der Körper schüttet in solchen Momenten nämlich eine Menge an Adrenalin und Blutzucker aus, die den Motor so richtig ins Beben bringen. Die versagende Stimme wird ausgelöst durch das Hyperventilieren, das wiederum den Sauerstoffgehalt im Blut erhöhen soll. Die feuchten Hände dienten – wie bereits erwähnt – dem besseren „Griff“ und „Grip“ zum optimalen Draufhauen und Weglaufen.

Was hier beschrieben wird, kennzeichnet zwar klar eine Stress-Situation – dieser Stress ist aber positiv zu sehen: er hilft uns, zu überleben. Das Problem ist also nicht das Auftreten solcher Phänomene – sondern die Häufigkeit, die Dauer und die eigene Bewertung. Denn oft sind es nicht die Umstände, die uns fertig machen, sondern unsere Haltung dazu. Sie kann zu einem selbstgemachten Stress führen, der auf Dauer gefährlich ist.

Während unsere Vorfahren nur temporär den Turbo einschalteten, läuft er bei uns ständig. Die erfolgreichen Jäger von damals ließen sich nach ihrer (gemächlichen) Rückkehr erst mal gebührend bewundern – feierten ausgiebig mit ihren Waffenbrüdern und Familien (Spaß muss sein) und ließen sich ordentlich pflegen und verwöhnen um sich schön langsam zu regenerieren und sich auf den nächsten Ausflug ins Reich der Tiere gründlich vorzubereiten. Die Jäger von heute dagegen stehen ständig unter Strom. Sie haben weder Zeit für gründliche Vorbereitungsphasen, noch für eingehende Beratungen (höchstens hinterher, wenn der Laden nicht mehr läuft) und nehmen die Bedeutung der Regeneration und des Kräftesammelns am heimischen Herd nicht ernst. Stattdessen ist sogar die Freizeitindustrie auf „Speed“ ausgelegt und bietet mehr Ventile für Hyperaktive als Ruhepole für Gestresste. Heute ist es sogar schick, ständig von „Stress“ zu reden – auch dann, wenn eigentlich gar keiner herrscht. Aber alleine das ständige Beklagen des Stresses kann ihn auslösen – und die Grenzen von dem verschwimmen lassen, was wirklich Stress ist – oder lediglich harte Arbeit.

Das Resultat: eine Welt von Adrenalin-Süchtigen und Stresskranken, die selbst ebenso dahinsiecht, wie die Wirtschaft, die sie geschaffen hat. Spaßlos, maßlos, hoffnungslos. Denn unser Körper hat uns nicht nur die Waffen gegeben, um im Kampf zu siegen – er setzt sie auch ohne zu Zögern gegen uns selbst ein, wenn er unser Tun für sinnlos hält. „Have fun or die!“. Wenn wir zu lange im roten Bereich fahren, macht unser Körper Feierabend. Menschen (wie Tiere übrigens auch) zeigen eindeutig auto-aggressive und destruktive Tendenzen, wenn sie längere Zeit negativem Stress ausgesetzt sind.

Negativer Stress kann aber auch von Ängsten ausgelöst werden (zu versagen, zu unterliegen, gefressen zu werden), verstärkt von ständigen Reizüberflutungen – wie sie in der heutigen Zeit typisch sind. Dabei stellt die Kombination von Zeitimpulsen und Anforderungen an die Geschwindigkeit bestimmter Handlungsabläufe unter natürlichen Bedingungen keine Bedrohung für uns dar. Im Gegenteil: Sie helfen uns in entscheidenden Momenten leistungsfähig zu sein. Problematisch wird es, nur, wenn Zeit und Tempi den inneren Uhren der Menschen entgegenlaufen. Und das ist leider sehr häufig der Fall. Wir sind zu Sklaven einer Zeitmaschinerie geworden, die wir selbst geschaffen haben. Künstliche Zeitkreisläufe machen uns ebenso zu schaffen wie eine chronische Reizüberhäufung. Weder unsere Biorhythmen, noch Menstruationszyklen werden berücksichtigt, ebensowenig innere Uhren und persönliche Zeitempfinden. Alles unterliegt dem Superlativ von schnell. Produktions- und Innovationszyklen werden immer schneller, Zeit immer kostbarer. Wer heute Zeit hat, ist verdächtig. Zeit ist nur noch den ganz Reichen vorbehalten – oder ganz Armen.
Dabei wirkt sich der Zeitmangel nicht nur negativ auf unseren Organismus aus – auch unsere Märkte scheitern am „Zeitproblem“. So hat uns gerade die New-Economy gezeigt, dass Schnelligkeit alleine nicht funktioniert. Das Geld wurde schnell verdient und noch schneller wieder  verloren – wer zu spät kam, wurde ausnahmsweise (?) nicht vom Leben bestraft, sondern von hohen Verlusten verschont. Die „Schnell-Schnell“-Gesellschaft hat ihr Baby mit Vollgas gegen die Wand gefahren.

Ergo: Die Menschen leiden unter der Überbewertung der Geschwindigkeit – die Wirtschaft an der Unterschätzung echter Werte. Eine Yuppy-Gesellschaft, die sich DSL-schnell selbst verwaltet, hat weder Sinn, noch Wert.

Werte brauchen Zeit. Schriftsteller benötigen für ein gutes Buch Monate und Jahre – jeder Versuch, den Entstehungsprozess zu beschleunigen, kann zu Qualitätseinbußen und zum Scheitern führen. Die Musik kennt zahlreiche Beispiele genialer Stücke – die nicht selten die Lebenswerke großer Meister waren. Undenkbar, dass sie unter Zeitdruck hätten entstehen können. Eine Stradivari besticht durch ihren einzigartigen Klang – nicht durch schnelle Lieferzeiten; Antiquitäten von überdauerndem Wert sind weder in Massenproduktion hergestellt worden, noch kann man sie in Discount-Mitnahmemärkten erstehen. Ein guter Arzt nimmt sich Zeit für seine Patienten und eine Operation ist dann gelungen, wenn der Patient sie gesund überlebt hat – unabhängig, wie lange sie gedauert hat. Die Reihe der Beispiele könnte man beliebig fortsetzen – klar ist: was schnell entsteht, verliert schnell an Wert.

„Gut Ding will Weile haben!“ so der Volksmund. Und Qualität hat bekanntlich seinen Preis. Es ist an der Zeit, wieder zu alten Werten zurückzukehren. Denn wir können eben nicht nur billig. „Deutsche Wertarbeit“ war ein Begriff – und er könnte es wieder werden. Dann ticken vielleicht auch die Uhren in Zukunft wieder anders. Eine gute Zeit wünschen wir Ihnen.

Autor: Christian Gosciniak

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